Seite 185 - sommer-2011

Basic HTML-Version

später daran erinnert, als mein Kollege anrief und mir die
Personalien der an dem Unfall beteiligten Personen durch-
gab mit der Bitte, die Angehörigen zu benachrichtigen, die
bei uns im Ort wohnten. Ganz zum Schluss der Meldung
fügte er mit leiser Stimme hinzu: „…und wenn’s geht,
Kollege, nicht telefonisch, geh’ besser hin, es hat keiner
den Unfall überlebt.“
Ein jüngerer Mann und ein älteres Ehepaar! Wem würde ich
die Nachricht überbringen müssen – und das am
Heiligabend? Ein schmuckes Reihenhaus in der neuen
Siedlung am Rande unseres Ortes. Da stand ich vor der Tür
und holte tief Luft. Es war immer das gleiche – aber nie-
mals wurde es Routine für mich. Wieder einmal Überbringer
einer bitteren Nachricht. Ich klingelte. Hinter der Tür wurde
Kinderlachen laut: „Oma, Opa sind da und Papa, Hurra!“ Die
Tür flog auf und zwei neugierige Augenpaare musterten
mich überrascht. Hinter ihnen trat eine junge Frau aus der
Küche. Sie trocknete sich gerade die Hände an der
Schürze, und dann sah sie mich – zunächst ein Blick der
Überraschung, dann Ungläubigkeit, Angst, dann das
Begreifen.
Ich ging erst wieder, als ich eine Nachbarin gefunden hatte,
die sich bereit erklärte, alle drei für die Nacht bei sich auf-
zunehmen. Andere Angehörige waren nicht mehr da. Auf
der Rückfahrt ins Büro fuhr ich bei unserem Pastor vorbei,
der mir versprach, noch in derselben Stunde die Familie
aufzusuchen.
Jetzt, ein Jahr später, auf den Tag genau, stand ich wieder
vor dem Haus. Kein Kinderlachen, kein Duft nach Plätzchen
– alles dunkel. Verdammt, hoffentlich kam ich nicht zu spät.
Die Nachbarin hatte recht, die Klingel funktionierte nicht.
Über Funk rief ich den Notarzt. Dann rannte ich um das
Haus. Da, im Wohnzimmer war ein Lichtschein zu sehen.
Ich überlegte nicht lange, ließ alle Vorschriften beiseite, wik-
kelte meine Jacke um den Arm und schlug die Terrassentür
ein. Mit einem Satz hechtete ich ins Wohnzimmer ….. und
starrte in drei entsetzte Augenpaare. Völlig verblüfft blieb
ich stehen. Hinter mir kam mein Kollege ins Zimmer, gleich
darauf traf auch der Notarzt ein. Ich brachte kein Wort her-
vor. Aber noch bevor ich mich gefasst hatte, sah mich die
junge Frau verstehend an und sagte mit leiser Stimme: „Sie
haben doch nicht etwa gedacht, ich …. wir … würden so
etwas tun? Dass ich denen“ – sie zeigte auf die Kinder –
„das antun könnte?“
„Aber“, stotterte ich, „wieso haben Sie denn das Telefon
und die Klingel abgestellt?“ Sie antwortete mit noch leiserer