Seite 136 - sommer-2011

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„Am 7. Mai 1882 fuhr ich – Eisenbahnen gab es noch nicht
– mit dem Pferde-Omnibus nach Aurich, um meine Bücher
dort abzuholen. Am nächsten Tag reiste ich auf einem küm-
merlichen Wagen nach Nesse zum Superintendenten und
Schulinspektor Köppen, der mich vereidigte. Am 9. Mai trat
ich auf dem Segelboot „Möwe“ von der alten Holzbrücke
auf Norddeich – die Mole war noch nicht vorhanden – die
Seereise nach Juist an. Mit mir waren noch zwei Fahrgäste,
der Kaufmann Fortmann aus Oldenburg, mit dem ich bis zu
seinem Lebensende im 91. Lebensjahre eng befreundet
blieb und ein Telegrafenbeamter auf dem Fährschiff. Nach
etwa fünf Stunden lästigem Kreuzen bei trüber Witterung
wurde auf der Reede von Juist geankert.
Ein Ackerwagen, mit zwei mageren Gäulen bespannt,
brachte uns nach etwa 2 Kilometer Fahrt durch das Watt
ans Ufer, wo die Schul- und Kirchenvorsteher unter Führung
ihres Pastors uns schon erwarteten. Auf schmalem, hier
und da versandeten Steinpfad, wanderten wir an den
kleinen aber properen Insulanerhäuschen vorbei zum
Schulgebäude. In der niedrigen Schulstube saßen meine 8
Zöglinge, die gespannt ihren zukünftigen Lehrer anschaut-
en. Mein Vorgänger nahm mit wenigen Worten Abschied
von ihnen, ich begrüßte sie noch kürzer, weil mir von der
Seefahrt noch übel war. Der Eindruck des scheunenartigen
Baus war kläglich genug, besonders, was die
anschließende Lehrerwohnung betraf. Das Wohnzimmer
war winzig und musste gleichzeitig als Telegrafenhilfsstelle
benutzt werden. Der Telegrafenbeamte war mitgekommen,
um mir dieses Nebenamt zu übergeben und mich in die
ersten Künste des Morsens nach Strich – Punkt
Schriftzeichen leidlich einzuführen. Die Post gewährte hier-
für jährlich eine Vergütung von 360 Mark, wodurch das
ebenso schmächtige Lehrergehalt vielverheißend
aufgebessert wurde. Neben dem anspruchslosen
Wohnzimmer mit einem großen Alkoven waren noch zwei
schräge Abkammern mit eingezimmerten Holzbetten
vorhanden.
Und nun zur Kirche. Hier war der Eindruck wenig erbaulich.
Schon im Vorraum strömte mir ein penetranter Geruch ent-
gegen. Da standen offene Fässer mit Heringsresten,
andere mit Teer und Petroleum: Das reinste Strandgutlager
war es! Als ich dem Pastoren gegenüber meinem Entsetzen
Ausdruck gab, hieß es: „Junger Mann, führen Sie nur keine
Neuerungen ein. So ist es von jeher gewesen. Bedenken
Sie die guten Strandportionen. Sie bringen uns die
Einkünfte!“