2007





Die Nacht als das Eis kam


Donnerndes Krachen von berstenden Eisschollen und wildes Sturmgeheul schreckte die Inselbevölkerung in der Morgendämmerung des 16. März 1947 auf. Der Eisgang hatte begonnen. Aber als der Tag graute, sahen die Menschen, deren einziger Wunsch die Wiederaufnahme der Schiffsverbindung zum Festland war, um endlich an Nahrung zu gelangen, dass sich dort, wo früher der Schiffsanleger stand und die Schienenstrecke der Inselbahn verlief, bis zu 12 Meter hohe Eisberge türmten. Alles unter ihnen Liegende war zermalmt. Ein Chaos von apokalyptischem Ausmaß!


    



Die Vorgeschichte. Seit dem 16. Dezember 1946, das Kriegsende lag gerade mal 19 Monate zurück, hielt strenger Frost die Insel mit kurzen Unterbrechungen in seinem Würgegriff. Die notleidenden Menschen auf Juist, zu denen außer 830 Einheimischen auch 700 Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten oder zerbombten Städten gehörten, mussten sich dadurch auf noch größere Entbehrungen einstellen, zumal die Festlandsverbindung mit Schiffen bald zum Erliegen kamen und nur gelegentlich abenteuerliche Anlandungen am Kalfamer Hoffnung auf Besserung weckten.
Es gab damals überall im Lande weder genügend Lebensmittel noch Heizmaterial. Auch die Versorgung mit sonstigen Dingen des täglichen Bedarfs, z.B. Kleidung oder hygienischen Artikeln








bewegte sich fast auf den Nullpunkt zu. Die britische Militärregierung gestand den Deutschen zwar Tagesrationen an Lebensmitteln von 1.200 cal. zu, aber erreicht wurde diese Menge fast nie und auf Juist schon gar nicht.
Die Inselbevölkerung musste notgedrungen zur Selbsthilfe greifen, um überleben zu können. Da das Watt zugefroren war, wagten zunächst einige Ortskundige, später dann ganze Gruppen den beschwerlichen und gefährlichen 12 Kilometer langen Weg vom Dorf über das zerklüftete Eisfeld nach Norddeich. Mit Rucksäcken und Schlitten transportierten sie Lebensnotwendiges, soweit es denn auf dem Festland überhaupt zu bekommen war, auf die
Insel. Bei einer dieser Touren am 1. März 1947 erfror ein Mann.
Als dann kein Brot mehr gebacken werden konnte, startete die Royal Airforce am 7. März endlich mit mehreren Flugzeugen von Bückeburg aus zur Insel und warf Mehl, verpackt in 25 Kg-Säcken, über dem Flugplatz ab. Dabei zerplatzten aber die meisten Beutel, sodass man das Mehl mühsam vom Schnee wieder zusammenkratzen musste.
Am 23. März 1947 landete die alte Frisia VI erstmalig wieder vor Juist, allerdings auf Reede, da es den Anleger ja nicht mehr gab. Von da an bis in den Juli 1947 hinein konnte man die Insel nur verlassen oder vom Festland erreichen wie am Ende des 19. Jahrhunderts. Stunden vor Hochwasser begab man sich zu Fuß oder per Pferdefuhrwerk an Bord oder ließ sich von irgendeinem Wasserfahrzeug zum Fährschiff bringen.






Etwas entspannter wurde die Lage, als eine Behelfsbrücke mit einem Fußgängersteg in Betrieb genommen werden konnte. Der gesamte Frachtverkehr ging jedoch weiter über die Reede.
Der Neubau eines Anlegers und der Gleisstrecke verlief von Anfang 1948 an relativ zügig, sodass die Gesamtanlage im Mai 1949 dem Verkehr übergeben werden konnte. Sie hat der Insel und ihren Menschen bis zum 10. März 1982 gedient. Dies war der Tag, an dem die Inselbahn ihre letzte Fahrt machte und das „Hafenzeitalter“ begann.
Die spannende Geschichte des Eiswinters 1947 ist nachzulesen im Buch INSEL IM EIS von Edzard Conring. Es ist im Verlag ALT JUIST 1993 erschienen und im Handel erhältlich. 


Text und Repros: Hans Kolde
Quellen: Schul- und Kirchenchronik Juist
Conring: Insel im Eis
Troltenier: Juist gestern und heute