Im Kreis
der Juister Kinderheime - vor dem Kriege waren es immerhin 10 - nahm der
Weberhof eine Sonderstellung ein. Deshalb ist seine Geschichte das Hauptthema
des diesjährigen Strandloopers.
Sie
ist untrennbar verbunden mit dem Namen Nanna Cremer, die 1928 nach Juist
kam, um in dem von der Inneren Mission im Zusammenhang mit dem Inselhospiz
erbauten Haus Eckhart ein Kinderheim einzurichten. Sie war eine Frau mit
fortschrittlichen Ideen für die körperliche und geistig-seelische
Betreuung von erholungsbedürftigen Kindern. Musik, Tanz, Spiel und
Theater hatten Platz neben vielfältigen Naturerlebnissen. Zu ihren
Methoden gehörten Spontaneität und Offenheit gegenüber ihren
Schutzbefohlenen und Mitarbeitern. Doch das war nicht so ganz im Sinne
der Kirche, die als Hauseigentümerin lieber gesehen hätte, wenn
man sich auf die physischen Belange einer Kinderkur beschränkt hätte.
Ein Problem für Nanna Cremer war die ausschließliche Belegung
des Hauses während der Sommermonate. An Winterkuren, wie man sie heute
kennt, dachte damals noch niemand. Deshalb waren sie und ihre Mitarbeiter
gezwungen, sich während der Winterzeit andere Tätigkeiten zu
suchen.
So entstand
der Plan, ein eigenes Haus zu bauen und darin eine Weberei einzurichten,
um für den Winter krisenfester zu werden. Nanna Cremer hatte über
Kieler Freunde Verbindungen zur Familie des Architekten Paul Thiersch,
dem Gründer und Leiter der Kunsthandwerksschule auf Burg Giebichenstein
bei Halle. Sohn Stefan Thiersch, damals noch Medizinstudent, aber mit der
gleichen Begabung für Architektur wie der Vater :, ausgestattet, entwickelte
nach mehreren Besuchen auf Juist den Plan eines Gebäudekomplexes,
der in einem Dünental im Ostdorf errichtet werden sollte. Natürlich
gab es Probleme mit der Inselgemeinde und den Baubehörden, denn die
Gebäude sollten abseits der Straßenflucht und mit Reetdächern
entstehen. Außerdem musste das Grundstück gekauft werden. Doch
Stefan Thiersch wusste sich mit überzeugenden Argumenten durchzusetzen.
1934 wurde die Weberei fertig. Für die Finanzierung sorgten Freunde,
allen voran die Webermeisterin EIsa Wetter, eine wirtschaftlich unabhängige
Deutsch-Schweizerin. Im Winter 1933/34 konnte erstmalig gewebt werden,
und im darauf folgenden Sommer bezogen Kinder das Haus. Die Webstühle
wurden während dieser Zeit abgebaut. Die Weberinnen waren zum größten
Teil auf Burg Giebichenstein ausgebildet worden und prägten den Stil
des Handwerksbetriebes entscheidend, wobei wesentliche Impulse immer wieder
von EIsa Wetter ausgingen.
Die
Erzeugnisse des Weberhofes gewannen bald einen ständig wachsenden
Liebhaberkreis, zumal man daranging, fertige Kleidungsstücke anzubieten.
Für deren Anfertigung war die Schneidermeisterin Maria von Wieck zuständig.
Sie kam 1932 zum ersten Mal auf die Insel, um im Kinderheim Eckhart tätig
zu sein. Daraus erwuchs eine lebenslange Verbindung zu Nanna Cremer
und zum Weberhof. Sie lebt heute noch - 92-jährig - in unmittelbarer
Nähe ihrer ehemaligen Wirkungsstätte und ist eine wichtige Zeitzeugin
und Informationsquelle für
diesen
Artikel.
Im Winter
1935/36 entstand das Haupthaus mehrgeschossig und mit Ziegeldach. Viele
freiwillige Hände halfen mit beim Bauen u. a. der Bruder von Nanna
Cremer, der noch im Studium steckte und eine Reihe guter Freunde mitbrachte.
Man war noch überall tätig, als im Sommer die ersten Kinder eintrafen
und das Haus, das den Namen Weberhof erhielt, mit quirligem Leben erfüllten.
Das Haus Eckhart wurde aufgegeben.
Gleichzeitig
konnte die Weberei nun ganzjährig in Betrieb bleiben und bot den Kindern
interessante Einblicke in diese Technik, wobei es für sie immer kleine
Möglichkeiten zum Mittun und Helfen gab, was den Gesamtaufenthalt
im Kinderheim außerordentlich bereicherte.
Nanna
Cremer war der gute Geist des Hauses. Mit unerschöpflichem Ideenreichtum
gewann sie nicht nur das Herz der Kinder, sondern auch das ihrer Mitarbeiterinnen.
Dabei
war deren Arbeitstag lang und anstrengend. Vom Aufstehen bis zum Schlafengehen
nur unterbrochen von 1,5 Stunden Mittagszeit. Pro Woche gab es lediglich
einen freien Nachmittag. In das Kinder-Betreuungsprogramm waren auch häufig
die Weberinnen eingebunden, allerdings auf freiwilliger Basis.
War
es verwunderlich, wenn inzwischen erwachsen gewordene Kurkinder immer wieder
von ihren Erlebnissen im Weberhofberichteten? Von Theaterspielen, Leseabenden,
Blockflöten- und Cembalomusik, gemeinsamem Singen, festlich begangenen
Sonntagen, fröhlichen Strand- und Wasserspielen, Wanderungen zur Ost-
oder Westspitze der Insel, Picknick in den Dünen und vielem anderen
mehr. Ein Highlight war jeden Samstag das so genannte Kulturessen, zu dem
sich alle festlich angezogen, das von musikalischen Darbietungen umrahmt
wurde und kulinarisch vom Alltag abstach.
Diese
schöne Entwicklung wurde jäh unterbrochen durch den Kriegsbeginn
1939. Man erklärte Juist zur Verteidigungszone und baute überall
Bunker und Geschützstellungen in die Dünen. Nanna Cremer verließ
die Insel, denn sie musste Geld verdienen. In den Bayrischen Alpen baute
sie ein neues Kinderheim in gemieteten Räumen auf. Den Weberhof verwaltete
während ihrer Abwesenheit Edda Cremer, eine Cousine, die bei Kriegsausbruch
als Lehrerin an die Juister Inselschule berufen worden war. Sie betreute
auch 12 Milchschafe, die man inzwischen erworben hatte, um deren Wolle
in der Weberei sowie Milch und Käse für die Ernährung zu
nutzen. In der Nähe des Weberhofs stationierte Soldaten bauten während
des Krieges zusammen mit den Frauen aus der Weberei einen ebenfalls von
Stefan Thiersch entworfenen Schafstall. Das Baumaterial stammte von einem
durch Bomben zerstörten Juister Haus. Bei Kriegsende waren 35 Schafe
mit Lämmern im Stall untergebracht. Futtermangel während der
Nachkriegszeit und eine daraus entstandene ansteckende Krankheit vernichteten
den gesamten Tierbestand.
Der
Neubeginn nach 1945 war schwierig. Für alle Inselbewohner hatte sich
die Lebenssituation dramatisch verändert. Juist war - abgesehen von
einigen Bombenschäden - relativ glimpflich davongekommen. Doch an
die Wiederaufnahme der Belegung des Weberhofes durch erholungsbedürftige
Kinder wie vor dem Krieg war zunächst nicht zu denken. Es fehlte an
Lebensmitteln, Brennmaterial und sonstigen Dingen des täglichen Bedarfs.
Außerdem lebten nahezu 1.000 Flüchtlinge aus den ehemaligen
deutschen Ostgebieten auf der Insel. Im Herbst 1945 begann die Inselschule
mit dem Nachkriegsbetrieb.
Etwa
um diese Zeit fand sich auch der Freundeskreis des Weberhofs wieder zusammen
und beriet über das Ob und Wie des Weitermachens. Da nicht abzusehen
war, wann das Kinderheim wieder geöffnet werden konnte, entschloss
man sich, die Weberei auf Juist stärker mit den Kunstwerkstätten
der Burg Giebichenstein zu verbinden. Treibende Kräfte dieser Entwicklung
waren die Gebrüder Stefan und Urban Thiersch, deren Schwester Gemma
Wolters- Thiersch sowie Professor Rudolf Fahrner und natürlich Nanna
Cremer.
Das
Ende des Krieges mit seinen ungeheuren Umwälzungen in allen Lebensbereichen
wurde von dem Personenkreis, der 1946 mit der Gründung einer Gesellschaft
den Aufbau der Weberhof-Werkstätten begann, als große Chance
begriffen in einer besonderen Art von Lebens- und Arbeitsgemeinschaft nicht
nur zu gemeinsamen künstlerischen Ausdrucksformen zu gelangen, sondern
auch Antworten auf die vitalen Fragen der Daseinsbewältigung nach
dem totalen Zusammenbruch der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung
zu finden
Die
Planungen erlitten einen herben Rückschlag durch den strengen Winter
1947, an dessen Ende am 03. März die totale Zerstörung des Schiffsanlegers
und der Gleisstrecke der Inselbahn stand.Bis zum Mai 1949 war die Schiffsverbindung
zum Festland nur durch ein beschwerliches Ein- und Ausbooten über
die Reede möglich.
Mit
Hilfe vielfältiger Beziehungen und Kontakte gelang es der Gesellschaft,
nach und nach wichtige Geräte für die Weberhof-Werkstätten
wie Keramik- und Emaille-Brennöfen, Töpferscheiben, Hobelbänke
und vieles andere mehr zu beschaffen, wobei oftmals gehortete Webereibestände
aus der Kriegszeit als Tauschmittel eingesetzt werden mussten. Erst 1948
nach der Währungsreform am 20. Juni konnte wieder mit Bargeld gezahlt
werden.
Bei
der Auswahl geeigneter Mitarbeiter für die Weberhof-Werkstätten
wollte man jungen, begeisterungsfähigen Kunsthandwerkern eine Chance
geben. So kamen 1947 Annemarie Tummeley und Werner Schmidt aus Höhr-Grenzhausen
und 1948 Gerhard Nieter von Giebichenstein nach Juist.
Auch
Gemma Wolters- Thiersch sowie ein Tischlermeister und eine Korbflechterin
arbeiteten eine Zeitlang in den Weberhof-Werkstätten. Nun konnten
endlich die während des Krieges nur halb fertig gestellten Bauvorhaben,
z. B. der Schafstall, zu Ende gebaut und neue Gebäudeteile, z. B.
die Töpferei, errichtet werden. Auch das Kinderheim kam langsam wieder
in Schwung. In den 50er und 60er Jahren fanden oft mehr als 40 Kinder Aufnahme.
Manche, deren Gesundheitszustand es erforderte, blieben über mehrere
Monate und gingen während dieser Zeit auch auf Juist zur Schule, viele
sogar ausgesprochen gerne.
Im Winter
1949 heirateten Werner Schmidt und Annemarie Tummeley, einige Wochen später
Gerhard Nieter und Renate Reger, die 1947 eine Ausbildung als Bild- und
Teppichweberin begonnen hatte. Beide Paare machten sich später selbständig:
Die Töpfersleute arbeiteten zunächst im Haus Hoff am Janusplatz
(heute Inselboutique), später in einem Neubau an der Gräfin-Theda-Straße.
Die
Manufaktur wird heute von der Tochter Cornelie betrieben. Nieters zogen
in die Wilhelmstraße und richteten dort ihre Künstlerwerkstatt
mit dem Markennamen „N" ein.
In zunehmendem
Maße mussten sich die Weberhof-Werkstätten um den Absatz ihrer
Produkte, die in vielen Ausstellungen auch außerhalb Juists gezeigt
wurden und überall Lob und Anerkennung fanden, kümmern. So entstand
im Töpferhaus am Janusplatz ein Verkaufsraum, der von dem Bildhauer
Urban Thiersch und der Weberin Beppa Verbeek, die ebenfalls von Burg Giebichenstein
kam, betrieben wurde.
Diese
siedelten später auch um in die Gräfin- Theda-Straße und
gründeten dort den Webergaden. Immer größer wurde
die Nachfrage nach fertigen Kleidungsstücken aus gewebten Stoffen.
In Maria von Wieck hatten die Weberhof-Werkstätten eine handwerklich
kompetente, stilsichere Fachfrau, die 1951 in das eigens für sie gebaute
und von Stefan Thiersch entworfene Reetdachhaus an der westlichen Seite
des Weberhofgeländes einzog. Unter ihrer und der Webmeisterin Slama
Leitung standen die jährlichen Modenschauen, zunächst im Höfchen
des Weberhofs, später dann im meist überfüllten weißen
Saal des Kurhauses.
Für
Urban Thiersch und Beppa Verbeek baute Stefan Thiersch dann kurz nach Fertigstellung
der Schneiderei das Dünenhaus am südöstlichen Rand der Gesamtanlage.
Dort errichtete Urban Thiersch aus Backsteinen und Ziegeln die Plastik
"Widder", ein beliebtes Kletterobjekt für die Weberhofkinder.
Damit
war auf Juist ein einmaliges architektonisches Ensemble entstanden, das
als beispielhaft gelten kann. Stefan Thiersch hatte eine glückliche
Hand für die Synthese von landschaftsgebundenem Bauen und den besonderen
Vorstellungen der Weberhofleute von äußeren und inneren Bedingungen
für eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft.
Trotz
der insgesamt positiven Aspekte für Kinderheim und Weberhof-Werkstätten
geriet das Unternehmen Anfang der 60er Jahre in eine zunehmend bedrohlicher
werdende finanzielle Bedrängnis. Diese Entwicklung wurde zudem überschattet
von der Krebserkrankung Nanna Cremers, die zwar noch versuchte. durch Adoption
ihrer langjährigen Vertrauten Tordis König einen neuen Hafen
für das ins Schlingern geratene Schiff zu finden, doch der Versuch
misslang.
1966
wurde der Weberhof an Heida und Gerhard Fiedler verkauft; 1967 starb Nanna
Cremer. Die letzte Webmeisterin, Marie-Louise Schäfer, zog um in das
Haus Hoff am Janusplatz und richtete dort die Inselweberei ein. Sie starb
im Sommer 2002.
Es ist
das große Verdienst der Familie Fiedler, dass sie den Weberhof nicht
nur in seiner äußeren Form erhalten hat, sondern auch bei der
inneren Umgestaltung zum Gästehaus die Idee der Begründer bewahren
konnte.
Text: Hans
Kolde |