Mit dem Flugzeug ins Abitur

Aus dem Logbuch der Schule am Meer und Aufzeichnungen des Schülers Hubert Kelter, zusammengestellt von Hans Kolde.

In der Schule am Meer, die von 1925 bis 1934 auf Juist in den Gebäuden der heutigen Jugendherberge und des Küstenmuseums im Loog eines der interessantesten reformpädagogischen Experimente in Deutschland unternahm, stand am Beginn des Jahres 1929. der zweite Abitur-Jahrgang zur Prüfung an.

6 Oberprimaner - 3 Jungen und 3 Mädchen - hatten sich während des verheerenden Eiswinters 1929 'In den Monaten Januar und Februar durch die schriftliche Prüfung .gequält und warteten nun auf die mündliche. Für deren Abnahme stand die Prüfungskommission, bestehend aus einem Oberschulrat und drei Studienräten, bereit, doch Juist war immer noch im Würgegriff des Winters: Es fuhr kein Schiff

Eltern der Schüler erreichten durch Kontakte zur Lufthansa, dass eine in Wilhelmshaven stationierte 5-sitzige Junkers-Maschine die Herren an Bord nehmen,  nach Juist fliegen, auf dem Strand vor der Schule landen und sie dort absetzen sollte. Einen Flugplatz gab es damals nicht auf Juist. Doch die Prüfungskommission empfand das Vorhaben als Zumutung und verweigerte die Zustimmung, zumal von solchen "Abenteuern" nichts in ihrem Dienstvertrag stand. Stattdessen kam ein Telegramm mit der Aufforderung, am II. März zur Prüfung nach Wilhelmshaven zu kommen.

Sicherheitshalber beschloss man, schon am 8. März zu starten und zwar in Begleitung des Schulleiters Martin Luserke und des Musikpädagogen Eduard Zuckmayer.

Doch ausgerechnet am 8. März schlug das Wetter um, die Temperatur stieg auf null Grad und die Insel hüllte sich in dicken Nebel. An Fliegen war nicht zu denken, aber ebenso wenig an Schiffsverkehr.

So hockten Lehrer und Schüler auf gepackten Koffern und wurden immer nervöser. Luserke postierte einen Ausgucker auf der höchsten Düne, ausgerüstet mit einer alten Trompete. Diese  Dienst versah :Peter Döblin, ein Sohn des Dichters Alfred Döblin. Am Morgen des 11.März ertönte ein lautes "TUUUT", der Nebel lichtete sich und bald landete - von Norderney kommend - das Flugzeug. Die Prüfungskommission wartete bereits in einem Wilhelmshavener Hotel. Prüfungstag!

8 Personen standen zum Einsteigen bereit, doch das Flugzeug konnte nur 5 von ihnen befördern. Deshalb flogen Luserke, Zuckmayer, Susanne, Eva und Jolande mit der ersten Tour nach Norderney. Kurz darauf folgten Ove, Werner und Hubert.

Natürlich entschwanden die Mädchen und die beiden Lehrer auch als erste Richtung Festland. Doch als der Pilot nach mehr als zwei Stunden zurück kam, weigerte er sich, einen weiteren Flug zu machen, denn der Flugplatz in Wilhelmshaven war total aufgeweicht, und er hätte bei der ersten Landung fast einen Kopfstand gemacht.

Da standen nun die drei Oberprimaner, sowohl von Juist als auch Festland abgeschnitten und ohne Hoffnung, den Prüfungstermin noch auf die Reihe zu kriegen. Also los, Hotel suchen! Doch im Eiswinter 1929 hatten auch auf 
Norderney nur zwei Häuser geöffnet. Eines nahm die „Luftbrüchigen" auf, versorgte sie mitEssen und Trinken, doch Trost konnten sie dort keinen erhalten.

Aber es wurde mit Wilhelmshaven telefoniert. Die drei Mädchen hatten die Prüfung inzwischen - mehr oder weniger glanzvoll bestanden. Die Prüfungskommission ließ jedoch ausrichten, dass sie am nächsten Tag um 12 Uhr das Hotel verlassen würde, und man könne ja auch noch im nächsten Jahr geprüft werden.

Am  Morgen - Blick aus dem Hotelfenster - wieder dicker, wattiger Nebel. Ratiosund allmählich ohne Zeitgefühl, durchstreiften die Jungen den öden, leergefegten Badeort und kamen schließlich zum Hafen. "Mensch Ove, der Frisia -Dampfer hat doch die Maschine am Laufen. Will der etwa nach Norddeich?"
Schon waren die Drei oben beim Kapitän, erzählten ihre Geschichte und baten ihn fast auf den Knien, sie mitzunehmen. Doch es gab zunächst kein Entgegenkommen, denn es sollte der erste Versuch werden, den Eisgürtel nach Norddeich zu durchbrechen. Aber selbst Ostfriesen haben gelegentlich ein Einsehen. Die Jungen mussten dem Kapitän schriftlich bestätigen, dass sie auf eigenes Risiko an Bord seien, und dann begann eine unvergessliche Eisbrecherfahrt. Immer wieder: mit dem Gewicht des Schiffes auf die Eisdecke, die krachend zerbarst, dann Rückwärtsfahrt und erneut  volle Kraft voraus. Für die Strecke, normalerweise in 40 Minuten zu bewältigen, brauchte die Fähre 2 Stunden.  Aber die Jungen waren auf Festlandsboden.

Schnell wurde mit Wilhelmshaven telefoniert: "Bitte bitte, Warten!" Dann ein Taxi bestellt. Nach halsbrecherischer Fahrt kamen die Jungen just in dem Moment in Wilhelmshaven an, als die Pauker, die schon großzügig mehrere Stunden zugegeben hatten, Köfferchen in der Hand, aus der Drehtür des Hotels quollen, um abzureisen. Und da konnte man einfach nicht anders: Prüfen!.

Zunächst stärkte man die  Drei mit einem Steak, führte sie in eine nahegelegene Staatsschule und prüfte sie, unbeschadet der ganzen Vorgeschichte penibel in allen Fächern. Allerdings auch nicht ohne Wohlwollen.

Abends dann der Rückmarsch ins Hotel, ein bereits stimmungsmäßig aufgelockerter Imbiss zu vorgerückter Stunde und Fortsetzung der Prüfung in einem Hotelsalon bei leiser Barmusik von nebenan. Um 2 Uhr nachts holte Hubert Kelter seine Eltern in Hamburg per Telefon aus dem Bett: Abitur bestanden!

Im Rückblick war der Abschluss dieser unglaublichen nächtlich Prüfung fast grotesk. Werner nämlich hatte "Musik" als Hauptfach und schleppte deshalb während der ganzen Irrfahrt seinen Geigenkasten mit. Er musste dann, in der wahrhaft "musischen" Atmosphäre des Provinzhotels, weit nach 12 Uhr nachts den übermüdeten Prüfern eine eigene Komposition vorfiedeln. Zum Glück war die Salonmusik in der Bar bereits verstummt.

Alles in allem: Nach dieser abenteuerlichen Reise erhielt die Schule am Meer nun endlich das Recht - wie andere Gymnasien - das Abitur auf Juist vor eigenen Lehrkräften abzulegen.

Am 14.März 1929 fuhr zum ersten Mal seit Anfang Januar wieder ein Fährschiff von Norddeich nach Juist. Über die Toppen beflaggt. Und am Inselbahnhof begrüßte die ganze Schule am Meer - jung und alt - die frischgebackenen  Abiturienten mit Jubel.


 
 
 
HOME