Überleben
zwischen Meer und Watt
In den
letzten Jahren hat es dramatische Abbrüche an der Insel Juist gegeben.
Deutlich erkennbar für jedermann verliert sie am Nordwestkopf jeden
Winter je nach Sturmfluthäufigkeit einige zig Meter. Die Ursache für
diese Entwicklung ist grundsätzlich bekannt, aber in den Details nicht
erforscht und aufgrund der Komplexität der Einflussfaktoren
nicht vorhersehbar. Deshalb ist auch nicht bekannt, ob der fortschreitende
Abbau gestoppt werden kann und der für den Küstenschutz zuständige
Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft und Küstenschutz
beschränkt sich auf eine sogenannte „Rückwärtsverteidigung“
durch den Einbau enormer Sandmassen in die Restdünen, mit der die
Bill vor hohen Sturmtiden kurzfristig gesichert ist.
Weitgehend
unbemerkt von der Öffentlichkeit, da weit weniger spektakulär,
aber mindestens ebenso bedeutsam sind die Erosionserscheinungen auf der
Südseite der Insel entlang der Hellerkante und im Wattbereich.
Auch
hier ergreift der Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft
und Küstenschutz neuerdings nach langer Ruhepause wieder Schutzmaßnahmen.
Die Ursachen für die Rückbildungen auf der Südseite sind
im Gegensatz zur Nordseite weniger schwierig zu erfassen, unterliegen weniger
dem Zufallsprinzip und sind aus jahrhundertlanger Erfahrung bekannt, und
wären bei entsprechendem Einsatz beherrschbar.
Die
Insel Juist ist ein dynamisches System, dass ständiger Pflege bedarf,
und diese wurde von Bewohnern und Küstenschützern regelmäßig
Jahrhunderte lang geleistet, um seine Existenz zu bewahren. Erst mit Einführung
des Nationalparks und einer sich verschlechternden Haushaltslage des Landes
und dadurch reduzierten Mitteln für den Küstenschutz kam es zu
einer Einschränkung der Schutzmaßnahmen. Die Dynamik des Ökosystems
Insel geht hervor aus überlieferten historischen Skizzen, Zeichnungen,
Artikeln, Segelhandbüchern und anderen aus dem 17. Jahrhundert bis
hin zu zeitgenössischen, wissenschaftlichen, geomorphologischen Untersuchungen.
Die
ersten als recht zuverlässig anzusehenden Dokumentationen sind Seekarten
und stammen beispielsweise von dem einflussreichen Emder Stadtbaumeister
und Ratsherren M. Faber.
Sie
geben neben Form und Lage der ostfriesischen Inseln vorrangig Fahrwasser
und Sandbänke wieder, um dem schon damals regen Handel auf dem Wasserwege,
hauptsächlich der Ems, Sicherheit zu bieten.
Aus
heutiger Sicht ist erstaunlich, mit welcher Genauigkeit die damaligen Messungen
durchgeführt wurden, auch ohne die heute zur Verfügung stehenden
Mittel wie Luft- und Satellitenaufnahmen oder elektronische Navigationshilfen.
Viele
Wissenschaftler und andere Interessierte haben sich immer wieder mit dem
hiesigen Lebensraum und seiner Entwicklung auseinandergesetzt, der gerade
durch seine ständigen Veränderungen zur Erforschung herausfordert.
So ist
bekannt, dass die Insel im 16.Jahrhundert besiedelt wurde, wobei die Population
in Abhängigkeit von der Größe der Insel gering und vermutlich
bei ca. 20 erwachsenen Einwohnern lag, die sich von der Landwirtschaft
ernährten.
Damals
brachten die ostfriesischen Gutsherren im Sommer ihr Vieh als sog. Pensionsvieh
auf die fetten insularen Weiden in die Obhut der Insulaner, die dadurch
ihren Lebensunterhalt aufbesserten. Juist verfügte, auch das ist bekannt,
über eine völlig andere Form als heute und über viel Weideland.
Doch
unerwartet schnell änderte sich die Form der Insel infolge einer Reihe
schwerer Sturmfluten, wodurch die Insulaner gezwungen waren, ihre Häuser
und sogar ihre Kirchen umzusetzen an scheinbar weniger gefährdete
Stellen der Insel. Dies beschreibt Lorenz Hafner sehr anschaulich in seinem
Inselbuch „Juist“.
Der
Wunsch nach mehr Sicherheit vor den Naturgewalten wuchs, und die Insulaner
ergriffen die Initiative zum Schutz der Insel. Unterstützt wurden
sie dabei von den Regierungen auf dem Festland. Schon bald entwickelten
sie mit deren Hilfe Methoden zum Inselschutz, die für die damalige
Zeit und zur Verfügung stehenden Mittel hoch effektiv waren.
Zuerst
fand die Pflege im kleinen Rahmen, soweit menschenmöglich mit purer
Handkraft statt, später dann unter zu Hilfenahme der Arbeitskraft
von Tieren und in der jüngeren Vergangenheit mit Hilfe von Maschinen.
Schon
1715 veranlassten starke Sturmflutschäden an den Dünen den ostfriesischen
Ingenieur Emmius zusammen mit dem Regierungsrat Kettler zu einer Bereisung
und gründlichen Bestandsaufnahme, der in die Dünenketten gerissenen
Lücken auf Juist. Der Dünengürtel bildete den einzigen Schutz
für die Inselsiedlungen und deren Hellerwiesen. Emmius beschrieb die
natürlichen Kräfte, die schützende Dünen, besonders
im Osten der Insel, neu bildeten und empfahl diese durch menschliche Unterstützung,
durch das Setzen sogenannter „Flaken“ , dass sind Zäune aus Buschwerk,
zu verstärken und auch die Bildung neuer Dünen zu fördern.
Auf
das Besetzen mit „Flaken“ sollte die Bepflanzung mit Helm, dem Strandhafer,
folgen um den Sand an Ort und Stelle zu binden und vor dem Verwehen zu
bewahren.
Gleichzeitig
wurde das Pensionsvieh, dass neben den Sturmfluten durch wildes Weiden
erheblich zur Zerstörung der Dünen beitrug nun durch Einzäunung
auf den Salzwiesen gezielter gehalten, wodurch sie systematisch beweidet
wurden.
Die
Insulaner hatten neben dem Dünenschutz ein besonderes Interesse am
Erhalt, bzw. am Ausbau, der Weideflächen. Um die Gefährdung der
unabdingbaren Nahrungsquellen für das zahlreiche Pensionsvieh
durch Sturmfluten zu verringern, entwickelten sie neben Methoden des Dünenschutzes
solche der Landgewinnung, und wandten diese erfolgreich an.
Hierzu
gehörte das Grüppen, also das Ziehen von Entwässerungsgräben
in den Salzwiesen, um das bei Hochwasser eindringende Salzwasser schneller
und gezielter abfließen zu lassen.
Diese
sehr kräftezehrende Arbeit, bei der der schwere, zähe Kleieboden
anfangs nur von Hand bearbeitet werden konnte, war eine Gemeinschaftsaufgabe.
Heutzutage gibt es hierfür speziell entwickelte Grüppmaschinen.
Das
Setzen von Lahnungen, felderförmigen Pfahlkonstruktionen im Wattboden
am südlichen Inselrand, die durch dichtes Weidengefecht verbunden
wurden, führte zur Strömungsverlangsamung entlang der Wattkanten
und in der Folge zur Sedimentation von Sinkstoffen und allmählichen
Zunahme und Erhöhung an der Südseite. Die Besiedelung der Flächen
durch Primärpflanzen wie Queller unterstützte diesen Prozess.
Je höher
ein Heller durch Aufschlickung wuchs, und je fester der Kleieboden durch
Entwässerung und Verdichtung durch Beweidung wurde, desto besseren
Schutz stellte er gegen Sturmfluten dar, weil er die Wellengewalt beim
Auflaufen des Wassers brach. Die Grüppen sorgten für einen zügigen
Ablauf des Wassers, verhinderten so die Aufweichung und Versalzung des
Bodens. Es entwickelten sich vermehrt extrem angepasste Pflanzensoziokulturen,
die nur hier existieren konnten. Ihre Rückbildung in den letzten Jahren
macht neben anderen Anzeichen die Vernachlässigung der Pflege der
Salzwiesen deutlich. Mit den obigen in aller Kürze beschriebenen Mitteln
und einem Gefühl für die Nutzung der natürlichen Kräfte
gelang es den Bewohnern erfolgreich ihre Insel über Jahrhunderte,
selbst unter dem Einfluss des stetig steigenden Meeresspiegels, „durch
die Nordsee zu bewegen“;
langsam
aber sicher gen Osten und gen Süden Richtung Festland. Dies zeigen
die am heutigen Strand zwischen Bill und Hammersee hervortretenden Hellerweidekleischichten,
die vor wenigen Jahrhunderten auf der Südseite der Insel entstanden
und als Weide- und Kulturland dienten. Die alten Kleieschichten bergen
viele Überreste der früheren Kultivierung wie beispielsweise
Teile von Deichen und Entwässerungsgräben, Brunnen und Viehtränken
und sogar eine Vielzahl von Gebrauchsgegenständen. Durch den Sandflug
wandert die Insel sozusagen über sich selbst hinweg und hat in den
vergangenen vier Jahrhunderten zwischen 400 und 500 Metern in Richtung
Süden zurückgelegt.
Im Ostteil
der Insel mit ihrer positiven Sandbilanz ist dieser Prozess besonders deutlich
erkennbar. Die wenige Jahrzehnte alte Flugplatzstraße war teilweise
auf 50 % ihrer ursprünglichen Breite zugesandet und zugewachsen und
musste kürzlich in aufwendiger Arbeit freigelegt werden.
Heutzutage
ist der Inselschutz auf den ersten Blick durch hohe, breite und feste Deiche,
die durch den Einsatz erheblichen mechanischen Aufwandes entstanden sind,
hervorragend und nie da gewesen. Diese modernen Bollwerke sind allerdings
starre Elemente in einem insgesamt dynamischen System, und wiegen uns leicht
in falschem Sicherheitsgefühl, da sie uns gegenwärtig auch stärkere
Sturmfluten trocken und sicher überstehen lassen. So sind heute Ort,
Flugplatz und Bill mit ihren Bewohnern durch Deiche und Dünen offensichtlich
geschützt.
Schon
dadurch wird die Vorstellung der Vertreter des Nationalparks bzw. seiner
Verwaltung, dass sich durch das Verbot und die Einstellung der althergebrachten
Küstenschutzes und Pflegemaßnahmen ein ungestörter, dynamischer
Prozess einstellt, aber spätestens seit der Errichtung massiver Bauwerke
im Watt, wie zum Beispiel Leybuchtbaumaßnahme oder Emssperrwerk,
nicht nur für Insulaner unerträglich und unzumutbar. Für
Ostfriesen, die Jahrhunderte mit dem Gedanken lebten „wer nicht will deichen,
der muss weichen“, ist das eine abstruse Idee. Durch ihre „Philosophie“
hatten sie ein Biotop geschaffen, das für Mensch und Tier gleichermaßen
einmalig war. Die Haltung der Nationalpark-Vertreter hat sich dagegen schon
in der relativ kurzen Zeit seit der Gründung des Nationalparks als
nachteilig für den Bestand der Insel herausgestellt und Schäden
hinterlassen, die kaum noch reparabel sind.
Es ist
paradox, dass neuerdings in Erkenntnis der Gefährdung der Inselsüdseite
wieder zu Maßnahmen gegriffen wird, der Errichtung von massiven Steinlahnungen,
die bekanntlich Folgen wie Strömungsbeschleunigung und Erosion des
Watts nach sich ziehen, und diese von der Nationalparkverwaltung toleriert
werden, alte, nachgewiesenermaßen effektive Techniken, wie Buschlahnungen,
die das Ökosystem in dieser heut existierenden Form überhaupt
erst geschaffen haben, aber nicht angewendet werden dürfen.
Durch
die Vernachlässigung der althergebrachten Inselpflegetechniken findet
ein schleichender und in der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkter
Abbau der Vordeichflächen auf der Südseite, sowohl was die Höhe
als auch die Breite betrifft, statt, neben dem weiterhin ständig fortschreitenden
Abbau des Strandes auf der Nordwestseite der Insel.
Die
gravierende Veränderung gegenüber der früher zwar stetig
wandernden aber stabil und breiter werdenden Insel ist also das Schmaler-
und auch Empfindlicherwerden gegen Naturgewalten.
Die
Kompetenz für die Heller- und Wattpflege hat sich aus einer langen
Praxiserfahrung bei Insulanern und Küstenbewohnern gebildet, leider
wird aus unserer Sicht auf sie zuwenig zurückgegriffen, und die zuständigen
Stellen treffen Entscheidungen bei ihren Schutzmaßnahmen, die nicht
immer im Einklang mit den vor Ort vorhandenen Kenntnissen stehen.
Wir
wünschen uns deshalb, dass diese verantwortlicher mit dem Lebensraum
umgehen, und eine sinnvollen Kooperation mit den Betroffenen und Akzeptanz
und Nutzung des vor Ort vorhandenen Wissens und Engagements.
Text:
West und Ost |
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