Weihnachtsheimkehrer

Der Tag geht vorüber, und weiter liegt bleiern die dichte, undurchdringliche Nebelwand über Insel, Wattenmeer und Küste. Mehr als 250 Menschen, fast ausschließlich Juister bevölkern die Hotels in Norddeich und Norden, um beim ersten Morgengrauen schnell zum Flugplatz gelangen zu können, denn dies ist der 24. Dezember, Heiligabend. Solange noch Dunkelheit vorherrscht, sind die Menschen voller Hoffnung, als aber das Tageslicht erneut den dichten Nebel erkennen lässt, weicht die Zuversicht allgemeiner Resignation. Wünsche zum fest sind plötzlich klein und bescheiden geworden, in lächerlichen zwei Tagen schrumpfen sie auf einen einzigen zusammen; gemeinsam mit der Familie Weihnachten feiern! Jede zweite oder dritte Juister Familie weiß noch einen oder mehrere Angehörige „drüben“. Das hat es hier seit Menschengedenken zum Heiligen Abend nicht gegeben. 
Unsere Wetterwarte zerstört jede Hoffnung auf das Fliegen. Da entschließt sich die Reederei Frisia, einen waghalsigen Einsatz zu fahren: „Frisia IX“ verlässt Norddeich und versucht Juist zu erreichen. Doch schon vor dem Kalfamer erkennt der Kapitän das Unmögliche. Er kann die dicke Eisdecke nicht überwinden. Es bleibt ihm nur, direkt an der Ostspitze einen Anlegeversuch zu wagen. Jeder von uns weiß nur zu gut, was der Mann in diesem Augenblick an Verantwortung übernimmt. Es sind ca. 250 Menschen an Bord, außerdem jede Menge Frachtgut, die Post von 4 Tagen und 80 Weihnachtsbäume. Hier am Flugplatz versammelt sich halb Juist. Alle motorgetriebenen Räder sind ostwärts unterwegs, sämtliche Kranken-, Feuerwehr-, Postwagen, die Fuhrunternehmer mit allen verfügbaren, großen und kleinen Gefährten. Von draußen dringt gespenstisch das laute, unentwegte Tuten des Frisia-Schiffes, das - wie wir über den Funkverkehr im Tower mithören können - nach einer Anlegestelle an der Ostspitze der Insel sucht. Dann der erlösende Ruf: Das Schiff habe dicht vor dem Inselsockel „angelegt“. Das, was sich draußen am Kalfamer abspielt, wird so geschildert: Ein Fuhrwerkanhänger wird vermittels eines Trecker über mehrere Eisschollen hinweg soweit vorgeschoben, dass die vom Schiff heruntergelassene Gangway seine Ladeplatte erreicht, Obwohl es ein steiler Abgang wird, können die Fahrgäste auf diesem Wege die „Frisia IX“ verlassen. Alles muß in großer Eile geschehen, denn die Ebbe läuft und mit ihr gerät das Treibeis in Bewegung. Deshalb entschließt sich dr Kapitän, das gesamte Frachtgut an Bord zu lassen und sofort umzukehren. Einige Juister Jugendliche sind der Unpünktlichkeit eines Norder Taxifahrers zum Opfer gefallen. Der erste Weihnachtstag bringt zwar bessere Sichten, aber es fällt gefrierender Regen, der das Fliegen unmöglich macht. Die Bremer Wetterwarte warnt. Inzwischen hat sich der Kapitän des Seenotrettungskreuzers „Otto Schülke“ aus Norderney bereiterklärt, die vier Juister Jugendlichen zu holen, die gestern in Norddeich zurückbleiben mussten. 
Das Anlegemanöver der „Otto Schülke“ am Kalfamer gestaltet sich noch dramatischer als das der „Frisa IX“ am Vortage: Dort, wo die Wassertiefe entsprechend ist, haben sich unüberwindbare Eisberge aufgeschichtet. So muss ca. 30 m weiter draußen geankert werden. Unser Rettungswagen, ein allradangetriebener Unimog, ist zum Kalfamer gefahren, kann jedoch die mitgeführten langen Leitern nicht einsetzen; doch die Ausbootung glückt trotzdem. Die Männer der „Otto Schülke“ ziehen schulterlange Gummianzüge an, erproben die Wassertiefe, die nicht über einen Meter beträgt und tragen die Mädchen nacheinander über eine Strecke von ca. 30 Metern sicher durchs Wasser ans Land und anschließend auch die Koffer. So findet auch dieses Abenteuer seinen glücklichen Abschluß.
Am frühen Nachmittag ist nach vielen Arbeitsstunden unsere landebahn wieder einsatzklar, so dass die Frisia-Luftverkehr den Flugbetrieb aufnehmen kann. Eas ist erstaunlich, wie viele Menschen jetzt noch auf die Insel kommen. Endlich landet - mit Roland-Air von Bremen kommend - auch die Kölner Familie, die so viele vergebliche Anläufe versuchte, Juist noch am Heiligen Abend zu erreichen. 
Was mit den 80 Weihnachtsbäumen geschehen ist, die  - der Insel schon so nahe - die Rückreise zum festland antreten mussten, ohne den Schmuck brennender Weihnachtskerzen getragen zu haben, weiß ich nicht. 
Wohl aber haben mir die hektischen und turbulenten Tage um das Weihnachtfest 1981 wieder einmal klar gemacht, dass wir Inselbewohner tritz bewältigung mancher schwieriger Probleme eben doch noch Abhängige sind - und wohl immer bleiben werden -, Abhängige von Sturm und Nebel, Eis und Gezeiten. Seien wir froh und dankbar, dass uns hier auf Juist noch solche Erlebnis- und Erkenntnismöglichkeiten gegeben sind.

Renate Kolde, Beauftragte für Luftaufsicht am Verkehrslandeplatz Juist, 1982

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