Kleines Fahrabzeichen
für Juister Kutscher

„Fahren Sie eigentlich nach Achenbach?“ – „Nein, zum Flugplatz!“ Mit solchen oder ähnlichen Antworten mußten sich interessierte Touristen schon mal zufrieden geben, wenn sie sich bei den Kutschern nach deren Fahrpraxis erkundigten. Jetzt ist das anders! Juist – das ist eine kleine, ostfriesische Insel, zwischen Borkum und Norderney. Das Besondere, was sie von ihren ostfriesischen Schwestern unterscheidet, ist nicht nur, daß Autos auf Juist grundsätzlich nicht zu finden sind, sondern das daß gesamte Transportsystem durch Pferdewagen erledigt wird. Das geht vom normalen Personentransport, über Gepäckbeförderung, Lebensmittel- und Getränkelieferungen bis hin zur Müllabfuhr. 

Dazu kommen noch die üblichen Ausflugs- / Planwagenfahrten. Diese Arbeiten teilen vier Fuhrunternehmen unter sich auf. Diese halten sich mehr an das Gesetz der Zweckmäßigkeit als an die Regeln der klassischen Fahrweise nach Achenbach. So sind zum Beispiel so gut wie alle Wagen des täglichen Gebrauchs, die Planwagen, Arbeits- und Transportwagen, mit einer Spielwaage ausgerüstet, die Fahrer haben zum größten Teil Tauleinen, die auch mal einen kräftigen Regenguß vertragen ohne sofort rutschig zu werden, in der Hand. Die Ausbildung der Fahrer, die zum Teil Saisonkräfte sind, findet recht weit entfernt von den Richtlinien des Benno von Achenbach statt. Die Veterinärämter des Landes Niedersachsen haben nun Überlegungen aufgenommen, auch auf Juist für die Kutscher eine Art Führerschein zu verlangen. Durch diese Überlegungen inspiriert, ergriffen die Fuhrunternehmen, angeführt von Gerald Kannegieter, selbst die Initiative. Er erinnerte sich an seine Bekanntschaft mit Hans Biesenbach, bei dem er mal Pferde gekauft hatte und der gleichzeitig Fahrlehrer FN ist. Dieser sollte nun vor Ort einen Lehrgang mit anschließender Abnahme des kleinen Fahrabzeichens (DFA IV) abhalten. Die Resonanz auf Juist war überwältigend, insgesamt bekundeten über 50 Juister  Interesse und die Flut der Anmeldungen war so groß, daß am Ende zwei Termine angesetzt werden mußten. Am 6. Mai 1998 war es dann soweit: Hans Biesenbach brachte zur Verstärkung seine Tochter Evelyn, die auf dem heimischen Hof in Kürten schon viele Erfahrungen durch ihren Vater mitbekommen hat und selber im Besitz des Bronzenen Fahrabzeichens ist, und Hartmut Peinemann, Richter und Ausbilder aus Wülfrath, mit nach Juist. Dann ging es an die Organisation; mit zwei Gespannen, die von den Unternehmen Kannegieter und Altmanns zur Verfügung gestellt wurden und zwei Kutschen von Gerald Kannegieter wurden den Teilnehmern die Lehren und Grundsätze des Achenbach nähergebracht. Als Ergänzung zur Praxis fanden auch regelmäßig Theorieeinheiten statt, und vieles wurde am praktischen Beispiel wiederholt. Auch der Spaß an der Sache kam nicht zu kurz, so bastelten sich die Teilnehmer ein Schild, auf dem Fahrschule zu lesen war und das für einige Erheiterung sorgte. Sicher konnte auch nach der Woche keiner der Teilnehmer mehr Eis sehen; jeder überfahrene Bordstein kostete den Schuldigen eine Runde Eis an seine Mitfahrer, wovon sicher die JuisterEisgeschäfte ordentlich profitiert haben. Die Teilnehmer waren zum größten Teil Angehörige der Juister Fuhrunternehmen, aber auch Privatleute, die den Lehrgang aus purem Interesse am Fahrsport belegt hatten. Besonderes Interesse zeigten aber auch die Juister Polizei und der Tierarzt. Eine der Hauptbeschäftigungen der Polizisten ist es, die „Geschwindigkeitsübertretungen“ der Kutscher zu ahnden, in der Ortschaft ist nämlich Trabfahren verboten; um bei diesen und auch anderen Angelegenheiten, bei denen die Pferdewagen nicht selten eine große Rolle spielen, die Lage auch aus Sicht der Fahrer beurteilen zu können, nahm der Polizist Alt Coordes an dem Lehrgang teil. Auch für den Tierarzt Dr. Solaro von Norderney, der den gesamten Tierbestand auf Juist und somit schwerpunktmäßig die Kutschpferde versorgt, ist es wichtig, aus eigener Erfahrung zu wissen, wie genau die Arbeit der Tiere vor dem Wagen aussieht. Die Chefs der Fuhrleute kamen ihren Angestellten entgegen, indem sie diese für jeweils zwei Stunden täglich zum Fahrunterricht von ihrer täglichen Arbeit freistellten. Das bedeutete auch für sie einen großen Aufwand an Organisation, besonders wenn viele ihrer Angestellten bzw. alle, wie bei Kannegieter, an dem Kurs teilnahmen. Aber, so groß der Aufwand um die Organisation auch gewesen sein mag, am Ende waren alle zufrieden; die Prüfer, Alfons Eilers und Frau Dr. Jansen konnten allen Teilnehmern ihr Fahrabzeichen überreichen. Der zweite Lehrgang fand dann am 12. bis 17. Juni 1998 unter etwas einfacheren Bedingungen statt: Hier waren es nur noch 15 Teilnehmer und durch die Erfahrung vom ersten Mal wurde auch die Organisation vereinfacht. Allerdings reiste Hans Biesenbach diesmal ohne Unterstützung an, so daß er acht Stunden am Tag als Beifahrer auf dem Bock saß (und auf diese Weise viel Eis essen mußte). Die Pferde wurden von Unternehmer Munier zur Verfügung gestellt, sein Hof war diesmal der zentrale Organisationspunkt, das was vorher der Hof Kannegieter war. Auch diesmal bestanden alle Beteiligten die Prüfung, jetzt honorierten Aneus Barth und Alfons Eilers die Leistungen der Prüflinge. Als Fazit  kann festgestellt werden, daß jetzt sicher kein Kutscher mehr auf die zu Anfangs gestellte Frage jene Antwort geben wird, sondern dem Fragenden jetzt vielleicht sogar die Lebensdaten von Achenbach erzählen wird. Jedenfalls haben die Lehrgänge einiges an der Einstellung der Fuhrleute verändert und den teilnehmenden Fahrern noch mehr Sicherheit im Umgang mit den Tieren vermittelt. Außerdem ist großes Interesse am Fahrsport geweckt worden, und einige der Teilnehmer warten sehnsüchtig darauf, daß die drei Monate der Wartefrist endlich vorbei sind und sie das Bronzene Fahrabzeichen in Angriff nehmen können.

Katrin Jargstorf, Münster

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