Der Juister und sein Handkarren

Bei jeder Schiffsankunft stehen sie in Reih und Glied, bunt und in den verschiedensten Größen und Formen begrüßen sie die Angekommenen: die Handkarren. Gäste steigen über 20‘Zoll Räder und sperrige Deichseln hinweg und halten Ausschau nach dem einen Gefährt, auf dem der Hausname ihres Feriendomizils geschrieben steht. Wie ein erster Willkommens-gruß wurde die Wippe vom Vermieter am Hafen bereitgestellt, der reisegestreßte Gast beginnt nun, das komplette Gepäck aus dem Container hineinzustapeln:
Die Koffer zuerst, den schweren nach hinten und den zweiten nach vorn um die Kilos optimal auf der Achse zu verteilen, dazwischen Reistaschen, Rucksäcke und die Strandutensilien für die Kinder. Schließlich ist der gesamte Hausstand für die nächsten zwei bis drei Wochen aufgetürmt zu einem mannshohen Gebilde auf zwei Rädern.
Doch der Handkarren kommt auf der autofreien Insel noch manch anderem Zweck zugute, man nennt ihn auch den „Kombi auf Juist“. Denn für jeden Juister Haushalt wird eines Tages der Gepäckträger  am Rad zu klein. Wenn sperriges oder schweres transportiert werden muß, kommt man mit dem „Stufenheck“ nicht allzuweit. Und so sieht man die Juister das Altglas entsorgen, den altersschwachen Hund gassifahren, den Nachwuchs transportieren oder auch einen kompletten Umzug bewerkstelligen. Und das alles mit dem Karren.
So mancher Juister verdient sich mit dem Handkarren auch ein paar Mark dazu; als professioneller Gepäckfahrer. Vor allem größere Häuser und Hotels, die unmöglich für jeden ankommenden Gast einen eigenen Karren bereitstellen können, verweisen gern an die Männer mit den unverkennbaren Elbseglern auf dem Haupthaar. Diese transportieren dann unvorstellbare Kofferberge auf knapp 5 qm Ladefläche an jede Adresse auf Juist, wohlgemerkt ohne Motor und Pferdestärken.
Gerüchten zufolge soll auch schon mal eine beschwipste Frauenrunde den bekanntesten aller Handkarrenbesitzer, den Gepäckfahrer Nummer 11, zum Lokal bestellt und so die sichere Fahrt nach Hause auf dem Fahrradanhänger angetreten haben. 
Und an den Stammtischen wird seit Jahr und Tag schon darüber debattiert, ob die Kugel- oder die Gummikupplung die bessere Verbindung zwischen Zugmaschine und Lastenhänger gewährleiste. Diese Frage spaltet die insulare Nation!
Man sollte sich stets vor Augen halten, das Juist das höchste Pro-Kopf-Vorkommen von Handkarren in ganz Europa hat und unsere Insel einen großen Beitrag zum Wohle der Fahrradanhänger-Industrie leistet....
Eines der schlimmsten Vergehen, die man sich auf Juist zu Schulden kommen lassen kann, ist die Entwendung oder auch das sogenannte „Ausleihen“ eines fremden Handkarrens. Wenn ein Juister jemanden beim unbefugten Benutzen seiner Wippe erwischen sollte, so wird er mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit laut, wirft die ganze Ladung auf die Straße und läßt den Übeltäter mit Sack und Pack dort stehen. Dies nur als kleine Warnung, plattdeutsche Verwünschungen hören sich zudem ziemlich erschreckend an. 
Denn zweifelsfrei ist das Verhältnis des Juisters zu seinem Handkarren ähnlich eigen wie das eines Festländers zu seinem Auto. Ohne Zweifel!
Und deshalb ist man sich hier auf dem Eiland auch einig: es gibt eigentlich keinen herzlicheren Empfang auf dieser Insel, als wenn man weiß: Es hat mir schon jemand einen Handkarren an den Hafen gestellt.

 
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